Der Westen ist die Norm – der Osten das Abnormale
Dirk Oschmann, geboren in Gotha, lehrt als Literaturwissenschaftsprofessor an der Universität Leipzig. Von daher drehen sich seine bisherigen Publikationen um Autoren wie Franz Kafka, Friedrich Schiller, Heinrich Kleist oder Gotthold Ephraim Lessing. Nun wagt er sich auf vergleichsweise neues Terrain: in eine politische Auseinandersetzung mit einem vereinigten Deutschland, das auch nach über 30 Jahren noch nicht so richtig zusammengewachsen ist.
Oschmann beschreibt in seinem Buch, wie der Westen sich als die Norm definiert. Der Osten hänge in vielen Teilbereichen noch hinterher. Was auch daran liegt, dass der Osten immer wieder die Erfahrung mache, gesamtgesellschaftlich nicht mitreden zu können.
„Er [der Ostdeutsche] darf über den Osten reden, aber nicht gesamtdeutsch reden oder gesamtdeutsch Stellung nehmen. Er wird da in der Regel in seinem Reden diskreditiert. Er wird nicht als gleichberechtigte Stimme gehört.“ (Prof. Dr. Dirk Oschmann im LandesWelle Thüringen-Interview)
Von der subjektiven Wahrnehmung zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung
Dirk Oschmann versucht in dem Buch aus einer subjektiven Wahrnehmung heraus eine Zustandsbeschreibung zu geben für die Situation zwischen Ost und West: „Das ist einfach eine Fülle an Beobachtungen, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe. Ich habe natürlich auch Bücher von Soziologen, von Politologen, von Historikern gelesen, um mir die Zusammenhänge klarer zu machen. Aber es ist der Versuch, meine eigene Erfahrung und meinen eigenen Weg zu beschreiben und das auf gewisse Weise mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu vermitteln.“
Oschmann selbst sieht sich selbst als Ausnahme. Er habe großes Glück gehabt, dass er nach 1989 alle Möglichkeiten nutzen konnte. Er konnte sein Studium abschließen, habilitieren und bekam eine Professorenstelle. Für ihn ein normaler akademischer Werdegang. Jedoch musste er feststellen, dass dies nicht der Normalität entspricht, sondern die Chancen nicht gleich verteilt sind. Als Beispiel führt Oschmann eine Studie der Uni Leipzig aus dem vergangenen Jahr heran, in der dargestellt wird, dass Karrieren nur im Westen stattfinden. Für Ostdeutsche böten sich diese Chancen nur, wenn sie längere Zeit im Westen waren.
Osten ist bei den Chancen abgehängt
Die Asymmetrie zwischen Osten und Westen liegt für Oschmann in den verschiedensten Bereichen: sei es Jurisprudenz, Politik, Wirtschaft oder Teilhabe am demokratischen Prozess. Oschmann beschreibt dies folgendermaßen: „Es gibt nicht nur eine asymmetrische Kommunikation insofern der Westen immer vorschreibt, wo es langzugehen hat und wie was zu denken ist, wie was zu sagen ist. Es gibt nicht nur eine Asymmetrie in den Verdienstmöglichkeiten, in den Reichtumsverhältnissen, sondern es gibt auch eine Asymmetrie in den Chancen, die man hat im Leben und eine Asymmetrie in den Teilhabechancen. Das ist eine ganz spezifische Schwierigkeit. Nämlich dass ich beobachten konnte, wie Gleichaltrige oder Jüngere und auch Ältere viel weniger Chancen hatten, als ich, der ich mich als Sonderfall betrachten muss.“
Als Sonderfall bezeichnet sich Oschmann, weil er einer der wenigen ist, der als Ostdeutscher einen Professorentitel hat.
Ostdeutsche sind seltener in Führungspositionen, an den Universitäten oder Landesgerichten wächst die Zahl Ostdeutscher in Spitzenpositionen zwar, ist aber immer noch sehr niedrig. Dies belegt eine Studie der Universität Leipzig. Gründe dafür sieht die Erhebung beispielsweise darin, dass nach der Wiedervereinigung das Institutionen- und Rechtssystem von Westdeutschland auch im Osten implementiert wurde. Erfahrene Fachleute kamen und besetzten die Posten in Ostdeutschland. Andererseits wanderten viele Ostdeutsche nach 1990 in den Westen ab, die auf bessere Karrierechancen und wirtschaftliche Verhältnisse hofften.
Auch heute noch gibt es die Abgrenzung nach Ossi und Wessi. Oschmann erklärt, dass ihm auch viele Studenten als Reaktion auf das Buch erklärten, dass sie in den altdeutschen Bundesländern zu Ostdeutschen gemacht würden: „Man macht sich über sie lustig, wertet das insgesamt ab. Das ist etwas, das sich bei den Jüngeren fortsetzt. Das ist nicht nur etwas, was Ältere betrifft, die vielleicht noch DDR-Erfahrung haben. Sondern das ist etwas, das sich als Strukturunterschied und als Ausschlussmechanismus fortsetzt.“
Jammer-Ossi: Sollen wir uns damit abfinden?!
Der Vorwurf des „Jammer-Ossis“ lässt bei solch einem Buch natürlich nicht lange auf sich warten. Diesen lässt Prof. Dr. Dirk Oschmann aber nicht auf sich sitzen: „Kaum kommt ein kritisches Wort aus dem Osten, wird das als Jammern weggewischt. Darüber schreibe ich 20 Seiten. Wie das funktioniert und es funktioniert natürlich bei dem Buch jetzt genau so: dass versucht wird, mich in diese Jammer-Ecke zu stellen.“ Oschmanns Gegenfrage lautet: Will man sich damit abfinden, dass der Osten an dieser Gesellschaft nicht mitwirken können soll?
Denn: Im Osten werden weniger Medienleute gestellt, weniger Richter, Wissenschaftler, Verwaltungsmitarbeiter. Auf diese Weise interessiere sich der Ostdeutsche immer weniger für Demokratie und könne die Demokratiebehauptung immer weniger nachvollziehen, so Oschmann.
Auch kritische Stimmen aus dem eigenen Umfeld
Abgesehen von einer großen positiven Resonanz bekomme Oschmann auch viel Gegenwind, erklärt er im Interview: „Das Kopfschütteln, Verärgertsein, Schweigen und Kontaktabbruch, das gibt’s schon auch. Weil die natürlich nicht verstehen, warum ich, der ich ja in einer guten Position bin, glaube, das machen zu müssen.“
„Das wird schon auch als Nestbeschmutzung betrachtet.“ (Prof. Dr. Dirk Oschmann über Reaktionen auf sein Buch)