Gewalt unter Jugendlichen: Ursachen und Umgang

Der Tod der 12-jährigen Luise, ein 10-jähriges Mädchen stirbt in einer Kindereinrichtung im bayerischen Wunsiedel, ein Gewaltvideo aus Erfurt: Im Zentrum dieser Meldungen aus den letzten Wochen stehen immer wieder junge Opfer, aber ebenso die gleichaltrigen Täter und Täterinnen. Dabei beschäftigt die Bevölkerung nicht nur die Frage nach dem Motiv, sondern auch die Sorge über die Gewaltbereitschaft der jüngeren Generation.

Jugendliche Tatverdächtige: Zahlen und Fakten


Im Jahr 2022 wurden bundesweit 26.441 tatverdächtige Jugendliche unter dem Sammelbegriff „Gewaltkriminalität“ registriert. Im Jahr davor waren es noch 20.526. Der Anstieg entspricht also 28,6 Prozent. Ebenso ist die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen von gefährlicher und schwerer Körperverletzung von 15.940 (2021) auf 20.626 (2022) gestiegen.
Jugendliche werden hauptsächlich wegen Körperverletzung auffällig und die Jugendgewalt spielt sich meist unter Gleichaltrigen ab.

Warum werden Jugendliche gewalttätig?


Dass jeder Mensch Aggressionen hat und zu Gewalt fähig ist, darüber sind sich Forscher einig. Aber wann leben Jugendliche diese Aggressionen auch aus?
Fakt ist: Den einen Grund, warum Kinder und Jugendliche gewalttätig werden, gibt es nicht. Die Selbstkontrolle ist bei jungen Menschen noch mangelhaft ausgeprägt – dies betrifft Menschen bis zum Beginn der 20er. Obwohl dies alle jungen Menschen betrifft, zeigen nicht alle gewalttätiges Verhalten. Vielmehr ist es ein großes Netz aus Risikofaktoren, die ein Ausleben der Aggressionen begünstigen.

Ein Risikofaktor ist das Elternhaus, erklärt Prof. Dr. Karina Weichold, Entwicklungspsychologin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena: „Wenn Eltern selbst Gewalt tolerieren oder aggressives Verhalten zeigen. Wenn der Zusammenhalt innerhalb der Familie eher gering ist. Und auch wenn die Eltern einerseits vernachlässigen, oder andererseits extrem streng sind. Dann ist das ein guter Nährboden, um in Richtung Gewalt bei den Kindern und Jugendlichen zu gehen.“
Die Familie ist aber nicht der einzige Risikofaktor: Darüber hinaus zeigten auffällige Jugendliche Defizite bei Problemlösungsstrategien, hätten Schwierigkeiten sich für das Leben Ziele zu setzen und diese durchzusetzen. Von der Persönlichkeit zeigten sie weniger Einfühlungsvermögen und seien eher impulsiver. Dies befördere eine gewaltbereitere Neigung, so Prof. Dr. Weichold.

Eine gewisse Gewaltbereitschaft entwickle sich auch nicht sprunghaft, sondern über längere Zeit, erklärt Prof. Dr. Weichold: „Darüber hinaus weiß man, dass die Gewalttätigeren eher in der Kindheit Auffälligkeiten zeigen. Auch in der Schule, auch im Familienkontext immer wieder anecken. Sich vielleicht auch eher mit anderen Jugendlichen zusammentun, die selbst problematisches Verhalten zeigen.“

„Das ist also eine längere Biographie, die von Auffälligkeiten geprägt ist.“ (Prof. Dr. Karina Weichold über die Entwicklung von gewaltbereiten Jugendlichen)

Vor allem im Netz sind Anfeindungen häufiger geworden. Sagt Jonas Dirlam, Referent vom schulpsychologischen Dienst Nordhausen: „Aufgrund der Möglichkeiten, aufgrund der verschiedenen Plattformen, die es gibt und die auch bei jüngeren Zielgruppen immer normaler werden. […] Und ein großes Problem ist, dass sich das Mobbing hierbei auf 24/7 erweitert.“

„Die Täterinnen und Täter versuchen sich selber höher zu stellen, ein positives Erleben daraus zu ziehen, dass sie andere niedermachen.“ (Jonas Dirlam zum Machtmotiv von Täterinnen und Tätern als Grund für psychische und physische Gewalt)

Bullying vs. Mobbing


Oftmals wird erniedrigendes Verhalten als „Mobbing“ bezeichnet, obwohl der Begriff „Bullying“ zutreffender ist: Bullying umfasse diese Form des aggressiven Verhaltens, die auch oft im Schulkontext zu beobachten sei, so Prof. Dr. Weichold. Durch das eigene Verhalten werde eine andere Person direkt oder indirekt geschädigt. Oftmals schießen sich die Täter über längere Zeit auf ein Opfer ein.
In den 5. bis 10. Klassen gebe es, laut Weichold, etwa 12 Prozent Täter. Das äußere sich in direkter Aggression durch Schlagen und Treten, aber auch subtiler, etwa durch Auslachen oder Gerüchte verbreiten.

Opferprofil und Umgang mit Tätern


Opfer von physischer oder psychischer Gewalt in Form von Bullying sind eher introvertierte, körperlich schwache Kinder und Jugendliche, die ein selbstunsicheres Auftreten haben. Als Folge dieser Gewalteinwirkung können sie Verhaltensauffälligkeiten entwickeln: „Es wird nicht nur damit bleiben, dass man in der Situation Schmerzen erleidet, traurig ist. Es können sich unter Umständen massivere emotionale Probleme entwickeln: zum einen Depressivität, bis hin zu Suizidalität, die auch häufiger bei Opfern von Bullying zu beobachten ist“, erklärt Prof. Dr. Weichold.

Jonas Dirlam, Referent vom schulpsychologischen Dienst Nordhausen, beschreibt  die Opfer von Mobbing besonders im schulischen Kontext so, dass sie sich schulisch verschlechtern, sich sozial zurückziehen, dass sie oft niedergeschlagener sind und möglicherweise nicht mehr ganz so viel erzählen.
„Mobbing ist immer ein strukturelles, systematisches Problem. Das heißt, beim Mobbing gibt es keine unbeteiligte Person, zum Mobbing gehört immer eine ganze Personengruppe. Es gibt immer die eine betroffene Person, dann eine kleine Gruppe von Täterinnen und Tätern, […]. Dann gibt es Mitläufer, die die Täter unterstützen, mal präsent sind, mal nicht präsent sind. Und dann gibt es die größte Gruppe der sogenannten By-Stander: der zuschauenden Personen, die das Mobbing aus verschiedenen Gründen dulden: aus Angst selber zum Opfer zu werden oder aus Unsicherheit“, erklärt Dirlam die Strukturierung von Mobbing.

Nicht nur mit den Opfern sollte im Nachhinein gearbeitet werden, sondern auch mit den Täterinnen und Tätern. Dabei sollten insbesondere soziale Kompetenzen vermittelt werden, empfiehlt Dirlam: Wie können diese Konflikte gesellschaftlich akzeptiert gelöst werden und wie sollte mit anderen Menschen umgegangen werden? Dirlam spricht von einer Art sozialem Kompetenztraining für die Täterinnen und Täter.

Für Prof. Dr. Karina Weichold beginnt die Prävention bereits im Kindergarten: „Für Kleinkinder ist es ja typisch einem anderen Kleinkind etwas aus der Hand zu reißen. Und die große Aufgabe der früheren Kindheit ist es, so etwas zu verlernen. Das sollte eigentlich im Laufe des Kindergartenalters passiert sein. Wenn Kinder im Vorschulalter noch nicht in der Lage sind pro-sozial und empathisch miteinander zu leben, sollte hier schon interveniert werden.“

Was können Eltern und Großeltern tun?


Wenn Eltern und Großeltern nun bemerken, dass ihre Kinder in den Mobbing- oder Bullying-Strukturen verstrickt sind, empfiehlt die Entwicklungspsychologin, die Kinder weiter als Kinder zu sehen. Denn auch wenn Heranwachsende oft älter aussehen, sind sie oft kognitiv doch noch nicht in der Lage alles zu überblicken: „Sie können schlechter rational denken, sie können schlechter ihre Impulse kontrollieren. Das liegt auch daran, dass die Hirnreife der körperlichen Reife hinterherhinkt. Bieten Sie in jedem Fall Ihre Hilfe an!“

Diesem Ratschlag schließt sich auch Jonas Dirlam an: „Wichtig ist für Eltern immer aufmerksam sein, immer gesprächsbereit sein und Interesse und Empathie signalisieren.“

„Einfach zu zeigen: Ich nehme mir die Zeit, ich höre dir zu. Ich mache keine Vorwürfe und dann gemeinsame Lösungen zu suchen.“ (Jonas Dirlam darüber, was Eltern tun können)

Lösungen können dann zusammen mit der Klassenlehrerin, dem Klassenlehrer oder der Schulleitung, aber auch mit dem schulpsychologischen Dienst oder einem Schulsozialarbeiter erarbeitet werden.

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